Konvolute der Sammlung Fotografie: Floris M. Neusüss

Die Sammlung Fotografie stellt den größten Anteil aller Sammlungsobjekte des Münchner Stadtmuseums. Der Bestand von ca. drei Millionen Objekten reicht von den frühen Anfängen der Fotografie im 19. Jahrhundert bis in die digitale Gegenwart; neben Fotografien sind ganze Bildarchive und Spezialsammlungen sowie fotohistorisches Equipment und seltene Fachpublikationen Teil der Sammlung. Die wichtigsten Konvolute – Konvolute sind Gruppen von kunst- oder kulturhistorischen Objekten, die thematisch oder chronologisch zusammengehören – werden hier mit vertiefenden Informationen und repräsentativer Objektauswahl vorgestellt.

Mehr zur Sammlung Fotografie auf der Website des Münchner Stadtmuseums


Floris M. Neusüss (* 03. März 1937 in Remscheid-Lennep; † 01. April 2020 in Kassel)

Berufsbezogene Biografie
Floris M. Neusüss war ein deutscher Fotograf und Künstler, der von den 1950er Jahren bis in die späten 2010er Jahre tätig war.

Neusüss studierte Wandmalerei, Fotografie und experimentelle Fotografie an der Werkkunstschule Wuppertal, an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie in München und an der Hochschule für bildende Künste in Berlin bei Heinz Hajek-Halke. Als freier Fotograf lebte er danach in Berlin, Wien und München. 1958 entstanden erste Arbeiten der Werkgruppe "Traumbilder", die den fotografischen Realismus mit Mitteln der Doppel- und Mehrfachbelichtung verfremdeten und die er bis in die 1970er Jahre fortführte. Ab den frühen 1960er Jahren beschäftigte er sich mit kameraloser Fotografie, die in großformatigen Fotogrammen (kameralos hergestellten Fotografien, bei denen Gegenstände direkt auf sensibles Fotopapier gelegt und belichtet werden), den "Körperfotogrammen" bzw. "Nudogrammen", und in stark abstrahierten Aufnahmen des nächtlichen Gartens, den "Nachtstücken", resultierte. Viele dieser Arbeiten entstanden in enger Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin, der Künstlerin Renate Heyne. Von 1972 bis 2002 unterrichtete Neusüss als Professor an der Kunstakademie Kassel (heute: Kunsthochschule Kassel) und etablierte dort eine Klasse für experimentelle Fotografie. 1972 gründete und leitete er, ebenfalls zusammen mit Renate Heyne, das Fotoforum Kassel als Hochschulgalerie und intensivierte in Ausstellungen und Publikationen die Auseinandersetzung mit konzeptioneller Fotografie in Deutschland. Im gleichen Jahr nahm er mit einer Porträtserie lebensgroßer Fotogramme von Besucher*innen und Künstler*innen an der von Harald Szeemann geleiteten documenta 5 teil. In den 1970er Jahren entstehen diverse Fotoaktionen und -performances wie "Flugtraum" (1976) und "Körperauflösungen" (1977). Parallel zu seiner Arbeit als Fotokünstler und Hochschullehrer erforschte Neusüss die Geschichte des Fotogramms in der Kunst des 20. Jahrhunderts und publizierte kanonische Bücher zum Thema wie "Das Fotogramm in der Kunst des 20. Jahrhunderts" (Köln: DuMont 1990). Auch das theoretische Werk zum Fotogramm entstand seit den frühen 1980er Jahren in Zusammenarbeit mit Renate Heyne, mit der er erst ab 2000 im künstlerischen Werk ausgewiesen zusammenarbeitete und großformatige Fotogramme in diversen Museen anfertigte (u. a. den Antiken der Glyptothek München). Neusüss war ordentliches Mitglied im deutschen Künstlerbund.

Fotohistorische Einordnung des Künstlers
Floris M. Neusüss gehört zu den bedeutenden Vertretern der experimentellen Fotografie in Deutschland. Mit seinem apparategestützten und kameralosen Werk erweiterte er den Kanon der erzählerischen und dokumentarischen Fotografie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um experimentelle Praktiken, die als Zweite Avantgarde im Umkreis des Fotoforums Kassel weit über die lokalen Grenzen hinaus Wirkung entfalteten. Neusüss‘ bekannteste Arbeiten stammen aus den 1960er und 1970er Jahren, als er mit experimentellen kameralosen Fotografien, Körperfotogrammen sowie Fotoaktionen und -performances von sich reden machte. Hier sind im Besonderen die lebensgroßen kameralosen Ganzkörperbilder hervorzuheben, die seinerzeit ein neues Genre im Medium des Fotogramms markierten. Mit seinem analytischen Ansatz in Fotoaktionen und -performances steht Neusüss in einer Reihe mit Fotograf*innen und Künstler*innen wie Timm Rautert, Ugo Mulas oder John Hilliard, die in den 1970er Jahren die Bedingungen des Mediums selbst ausloteten und so das Genre der Konzeptfotografie prägten, das Fotografie über das Dokumentarische hinaus und in den Bereich der Kunst und ihre Institutionen hinein führte. Ab den 1980er Jahren setzte er sein gleichermaßen poetisches wie analytisches Arbeiten in kameralosen Werkgruppen wie "Porträtfotogramme", "Stücke", "ULOs", "Nachtbilder", "Pflanzen und Dinge" fort und widmete sich zugleich wissenschaftlich-forschend und als Ausstellungsmacher Fotogramm und kameraloser Fotografie – Spielarten analoger Fotografie, die zuletzt angesichts des digitalen Wandels neue Aktualität erfuhren.

Angaben zum Konvolut
In der Sammlung Fotografie finden sich ca. 650 Schwarz-Weiß-Fotografien sowie einige Colorabzüge des Künstlers. Ein kleinerer Teil dieses Bestands umfasst 40 Studienabzüge seiner berühmten großformatigen Körperfotogramme, die 1984 vom Künstler angekauft wurden. Der größere Teil konzentriert sich aber auf das frühe, kamerafotografische Werk der Jahre 1958–1978, das dem späteren kameralosen Arbeiten voranging und es bis in die 1980er Jahre konsequent begleitete. Dieses Material kam 2009 über eine Schenkung ans Münchner Stadtmuseum und setzt sich aus Vintage Prints sowie späteren Abzügen zusammen, die vor allem zu drei Anlässen angefertigt wurden: zur Ausstellung in der Galerie Clarissa, Hannover (1968), zur Ausstellung im Kasseler Kunstverein (1977) und zur Ausstellung im Münchner Stadtmuseum (2012). Weitere Abzüge entstanden in den 1970er Jahren für Galerien.

Die Abzüge sind vom Künstler nicht nummeriert und wurden nicht in Editionen angefertigt. Von einzelnen Negativen liegen mehrere Abzüge aus unterschiedlichen Jahren vor mit teilweise verschiedenen Blattausschnitten. Beim allergrößten Teil der Arbeiten handelt es sich um Bromsilbergelatineprints auf Barytpapier. Wenige Abzüge sind auf technischem Papier angefertigt, das Neusüss auch für seine ersten Körperfotogramme verwendete. C-Prints finden sich nur vereinzelt. Neben fotografischen Arbeiten umfasst der Bestand Publikationsbeispiele einzelner Fotografien, Plakate, Einladungskarten, Zeitungs- und Magazinausschnitte sowie Buchcover.

Ergänzende Bestände: 2006 übergaben Neusüss / Heyne das bildnerische Archiv des Fotoforums Kassel inklusive einer Auswahl eigener experimenteller Arbeiten an die Stiftung Moritzburg in Halle an der Saale. 2012 ging ein Vorlass zum regionalen Schwerpunkt Kassel an das documenta archiv. 2019 ging ein weiterer Vorlass als Querschnitt der Schaffensjahre seit den frühen 1960er Jahren an das Künstler:innenarchiv der Stiftung Kunstfonds. Viele großformatige Fotogramme sind heute in privatem Besitz, in internationalen Museen sowie im gemeinsamen Nachlass des Künstlerpaars bei Renate Heyne.

Fotohistorische Einordnung des hiesigen Bestandes
Gegenüber den andernorts verwahrten Archivalien und bildlichen Unterlagen zur Lehre im Umkreis des Fotoforum Kassels und den späteren großformatigen Fotogrammen des kameralosen Werks, lässt sich an dem hiesigen Bestand ablesen, wie sich aus der Kamerafotografie die experimentelle Praxis und systematische Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie entwickelte. Die Janusköpfigkeit des Fotografischen zeigt sich gerade dort, wo Fotografie selbst als Teil von Performances verwendet wird, etwa in "Figuren im Raum" (1977), "Flugtraum" (1977) oder den "Körperauflösungen" (1976). Lebensgroße Papierabzüge werden hier performativ in bildliche Narrationen eingebunden, zu Flugdrachen umgebaut oder durch Feuer oder Wasser entstofflicht.

Ausstellungsgeschichte des Bestands
Anlässlich der Übernahme des Bestandes wurde 2012 die Ausstellung "Floris Neusüss. Traumbilder" im Münchner Stadtmuseum organisiert und mit einem gleichnamigen Überblickskatalog im Verlag Hatje Cantz begleitet. Vorausgegangen war eine Ausstellung, die Neusüss‘ eigene Körperfotogramme zusammen mit anderen kameralosen Werken vorstellte, und die 1983 unter dem Titel "Fotogramme – die lichtreichen Schatten" präsentiert wurde.

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